An einem sonnigen Wochenende besuchte ich ein weiteres Mal meinen Zauberbaum. Einige Wochen zuvor war ich ihm bei einem Waldspaziergang das erste Mal begegnet und war fasziniert und berührt von den Erlebnissen, die ich mit ihm hatte ( Zauberbaum (1), mein erster Besuch!).
Dieses Mal hatte ich keine Frage, sondern nur Neugierde mitgebracht und ich setzte mich neben ihn und wartete darauf, dass er mir erzählte.
Das Rauschen seiner Blätter im Wind und das Blinzeln des Sonnenlichts zwischen seinen Blättern beruhigte mich. Es vergingen Minuten des Wartens und des Lauschens auf das, was folgen würde.
Nach einiger Zeit erschien in mir seine erste Botschaft:
„Ich weiß, dass ihr euch sehr quält und müht. Ihr habt so immense Sehnsucht nach eurem Paradies und je mehr ihr darum kämpft, desto weiter scheint es sich zu entfernen. Es scheint sich eurem Griff zu entwinden, je mehr ihr es festzuhalten sucht.“
„Das stimmt!“, sagte ich. Wenn man die Nachrichten verfolgte, hatte man nicht den Eindruck, dass sich die politischen und sozialen Verhältnisse auf dieser Erde einem Paradies annäherten.
„Tatsächlich habt ihr keine Möglichkeit, es aus Kräften zu erreichen!“, sagte er weiter.
Ich war erschrocken und spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug: „Wir können es nicht erreichen??“
„Ihr könnt es nicht aus Kräften erreichen. Ihr bemüht euch sehr, aber es nutzt nichts….“
„Was sollen wir denn aber tun?“, unterbrach ich ihn.
„Was ihr tun sollt? Das ist euer Dilemma! Ihr denkt, ihr müsstet das, was ihr euch unter Paradies vorstellt, irgendwie herstellen, organisieren und kontrollieren. Und es ist noch schlimmer. Ihr denkt, es gäbe etwas Fremdes, das euch vom Paradies fernhält und ihr merkt nicht, dass es nur eure eigenen Ängste sind, denen ihr gegenüber steht. Ihr kämpft, streitet und versucht, das Leben zu organisieren. Was denkst du, wie konnte das Leben überleben, als es noch keine Menschen wie euch gab, die versuchen, das Leben zu organisieren und sich um unsinnige Dinge streiten, die sie selbst erschaffen?“
Das hatte was! In der Tat braucht uns das Leben nicht. Es hatte sich all die Jahrmillionen über selbst organisiert und prächtig entwickelt.
Einige Minuten war Stille zwischen uns und ich betrachtete die wunderschöne Waldlandschaft um mich herum. Bäume, Blumen, Insekten. Alle hatten sie ihren Platz und alles, was sie zum Leben brauchten. Ganz sicher dachten sie nicht darüber nach, wie sie sich organisieren sollten. Ganz gewiss kannten sie keine geschriebenen Gesetze. Ohne etwas dafür oder dagegen zu tun, folgten sie einer inneren Gesetzmäßigkeit, die es gut mit ihnen meinte.
„Ihr seid Wesen ohne Wurzeln.“, fuhr mein Zauberbaum fort. „Zwar habt ihr Wurzeln, aber ihr habt keinen Bezug zu ihnen. Ihr habt sie vergessen. Deshalb habt ihr große Angst!“
„Angst? Wovor meinst du?“, fragte ich neugierig.
„Ihr habt Angst vor der Unkontrollierbarkeit des Lebens und damit auch vor euch selbst. Das Leben erscheint euch feindlich gesinnt, weil ihr es nicht versteht. Es verlangt euch Vertrauen und Hingabe ab und ihr wehrt euch dagegen, weil ihr es nicht kontrollieren könnt. Ebenso habt ihr Angst vor anderen Menschen, die ihr nicht kontrollieren könnt und ihr bekämpft sie deswegen. Euer Verstand sagt euch, dass Kontrolle das Wichtigste und Sicherste für das Überleben sei, aber Kontrolle ist tatsächlich euer größter Feind! Sie schneidet euch von euren Wurzeln ab und versetzt euch damit in eine künstliche Welt aus zersetzenden Gedanken und Vorstellungen. Diese künstliche Welt ist ein trügerisches Refugium, in das ihr euch flüchtet. Gleichzeitig wundert ihr euch, dass das Leben mit euch ganz andere Wege geht, die ihr aber nicht versteht. Mit Kontrolle könnt ihr kurzfristig etwas ändern. Einen Fluss kann man kurzfristig stauen. Irgendwann wird er das Hindernis überwinden und seinen eigenen Weg finden. Eure Anstrengungen etwas zu verändern, können für eine kurze Zeit den Anschein einer Veränderung hervorrufen. Danach stellt ihr immer wieder fest, dass sich nichts durch euer Zutun verändert hatte.“
„Wohin geht das Leben mit uns?“, wollte ich wissen.
„Schau dich um! Alles was du hier siehst, hat Wurzeln. Du kannst auch sagen, es hat Bezug zur Quelle. Das Leben wird euch zur Quelle führen und damit ins Paradies, aber ihr zieht es noch vor, euch dagegen zu wehren.“
Mit ‚Quelle’ umschrieb er gerne das, was viele von uns unter Gott verstehen.
„Wie können wir denn den Bezug zur Quelle wieder herstellen?“, fragte ich
„Es ist einfach, wenn ihr bereit seid und den Mut aufbringt, euren Kampf für etwas oder gegen etwas aufzugeben. Wenn ihr bedingungsloses Vertrauen habt, dass euch die Quelle zum Paradies führen wird, werden sich eure Gedanken verwandeln. Sie sind das Machtvollste, das es im Universum gibt! All die Jahre waren eure Gedanken kämpferisch, zersetzend, feindlich, entzweiend und ihr habt eine Welt erschaffen, die diesen Gedanken entspricht. In bedingungslosem Vertrauen und vollständiger Hingabe an die Quelle werden eure Gedanken zu einer göttlichen, kreativen, verbindenden und heilenden Kraft.
Ohne Bezug zur Quelle ist ein Gedanke eine Waffe, die außer Kontrolle geraten ist und destruktiv wird. Ohne Bezug zur Quelle führt ein Gedanke ein tyrannisches Eigenleben, das vollständig von Angst gesteuert wird und einen zerstörerischen Kampf gegen sich selbst führt. In Bezug zur Quelle ist ein Gedanke ein kreatives Werkzeug. In Bezug zur Quelle wird ein Gedanke zur Vision. Alles was du in einer gesunden Umgebung siehst, war einmal Vision und hat sich mit der Kraft der Quelle zu Formen verdichtet. Wenn du genau hinsiehst, kannst du feststellen, dass die belebte Welt nichts weiter als ein liebevolles Spiel ist. Es kann nicht misslingen, weil es kein Ziel gibt, an dem die Dinge gemessen werden. Es hat kein Ende, das es zu erreichen gilt. Nicht um das ‚Was’ kümmert sich das Leben, sondern um das ‚Wie’. Das ‚Wie’ ist das, was ihr Menschen unter Liebe versteht. Liebe kann alles tun. Das ‚Was’ in der Liebe ist nicht wichtig und es ist niemals zersetzend oder entzweiend.“
„Das verstehe ich eigentlich schon.“, sagte ich. „Aber es ist schwer, es umzusetzen. Wie kann man das lieben, was einen bedroht und was einem nicht gefällt?“
„Deine Liebe, wie du sie verstehst, hält sich an dem fest, was deine entzweienden Gedanken dir über sie erzählen! Dein Verstand benutzt dich und nimmt deine Art von Liebe zum Vorwand, um Bedingungen zu stellen.“
„Aber wie kann sich Heilung für mich und die Welt ereignen, wenn ich die vielen üblen Verhältnisse einfach nur akzeptiere?“, fragte ich verzweifelt.
„Die ‚üblen Verhältnisse‘, wie du sie nennst, sind nicht durch die Kraft der Quelle und im verbindenden Bezug zu ihr entstanden! Sie sind durch die Beziehungslosigkeit zu ihr entstanden. Der Grund ist, dass du dich am Verändernwollen festhältst. Weil du das Gute willst, erschaffst du dabei zwangsläufig auch das Böse und das bringt dir den Kampf und das Entzweien. Je mehr du um Gott kämpfst, desto stärker wird auch der Teufel. Es ist tatsächlich ein Teufelskreis, den du in Gang hältst.“
„Was kann ich konkret tun?“, fragte ich in einem Anflug von Ratlosigkeit.
„Hör auf, an Gut und Böse zu denken! Gewöhne dir ab, zu verurteilen. Vergiss Gott und der Teufel verschwindet mit ihm. Schau genau hin, was gerade um dich ist und was in dir geschieht und nimm es ohne Lob oder Tadel an.
Du bist die Welt. Du wirst eine Übereinstimmung entdecken. Deine innere Haltung bestimmt die Qualität deiner Gedanken und sie spiegeln sich in dem, was du um dich herum vorfindest. Die ‚üblen Verhältnisse‘ sind eine äußere Entsprechung zur inneren Welt der Gedanken, die ihre Verbindung zur Quelle verloren hat. Im Moment, in dem du dir der Spiegelung bewusst bist, hast du die Verbindung zur Quelle wiederhergestellt. Die Verbindung drückt sich im Bewusstwerden aus, ohne dass auch nur der geringste Anflug von Wertung vorhanden ist.“
Das erschien mir irgendwie plausibel. Allerdings fragte ich mich, was mit den Gedanken all der anderen Menschen war? Schließlich führten ja nicht nur meine eigenen Gedanken zu Verirrungen, sondern die Verhältnisse sind schließlich ein Produkt der Gedanken aller Menschen.
Mein Baum hatte meine Frage gesehen und antwortete darauf:
„Auch wenn du dich als Individuum als ein Krieger des Lichts oder Verteidiger des Guten empfindest, so hast du mit dieser Wahl ohne es zu wollen auch das Böse und die Dunkelheit in die Welt gebracht. Auch wenn ihr euch als Einzelwesen empfindet, die ihre Wahl treffen, so seid ihr doch nur eine einzige Menschheit. Was euch voneinander unterscheidet, sind nur eure belanglosen Geschichten. Es sind nur bedeutungslose Spielarten, Variationen innerhalb der großen und gemeinsamen Wesenheit Mensch. Ihr seid ein einziges Wesen mit vielen Körpern!“
Ich dachte an einen Schwarm von Vögeln, die alle gleichzeitig die Richtung änderten und sich wie ein einziges Vogelwesen verhielten.
„Eure Körper und eure Gedanken gehören euch nicht. Sie sind Spielarten der Wesenheit Mensch. Ihr seid Geist, der sich zu immer neuen und vielfältigen Formen verdichtet und wieder löst. Eure Gemeinsamkeit ist entzweiendes Denken, welches sich für etwas Gutes entscheiden mag und es herbeisehnt und dem das Böse durch diese Trennung aber zwangsläufig und unabdingbar wie ein Schatten folgt. Wir Baumwesen verstehen eure Verzweiflung. Ihr sucht nun Schuldige für eure Lage und ihr opfert sie, um euch ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Ihr ahnt, dass ihr euch damit kollektiv selbst bestraft und Lieblosigkeit mit Lieblosigkeit zu vertreiben sucht. Aber ändern könnt ihr damit nichts.“
„Du meinst, wir sollten die so genannten Bösen nicht behelligen und nicht bestrafen wollen? Sie werden uns auslachen!“, sagte ich zornig.
„Du siehst zynische Gegner? Viele deiner Menschen sind ihre eigenen zynischen Gegner und verurteilen und bekämpfen sich selbst. Es ist zu einem Muster geworden, in der Vorstellung Gegner zu erzeugen. Mit diesem Muster verfahrt ihr auch gegenüber Mitmenschen und gegenüber der Umwelt. Ihr seid in diesem Muster der Ablehnung und der schleichenden Selbstzerstörung gefangen.“, erwiderte mein Zauberbaum.
„Ja, ich kenne das von mir selbst. Oft kämpfe ich auch gegen mich selbst und weiß mir nicht zu helfen!“, gab ich zu und wurde sehr nachdenklich.
„Wie kann ich das ändern?“, fragte ich.
„Das Einzige was du wirklich verändern kannst, ist deine Art der Betrachtung. Ihr habt euch dazu erzogen zu urteilen, zu messen und zu vergleichen. Alles das tut ihr, weil ihr ein Gegenüber voraussetzt. Damit habt ihr euch in euch selbst von vornherein entzweit. Bei Anderen etwas ändern zu wollen, würde bedeuten, genau diesen Prozess des entzweienden Denkens beizubehalten. Tatsächlich gibt es ‚die Anderen’ nur in eurer Vorstellung. Die heilvolle Art der Betrachtung ist, die Illusion der Zweiheit als Illusion zu erkennen. In dem Moment wird sie sich in Nichts auflösen. Dann wirst du wissen, dass deine Denkmuster und deine Gewohnheiten selbst die Verhältnisse sind. Dann wirst du wissen, dass der Kampf mit einem Gegenüber ein selbstzerstörerisches Denkmuster ist.“
„Aber Moment mal!“, protestierte ich. „Es gibt Leute, die vollkommen anders denken, als ich es tue. An vielen kann ich mir ein positives Beispiel nehmen. Manche andere dagegen verachte ich wegen ihres Denkens!“
„Was in dir verursacht die Trennung und was in dir verurteilt das Andersartige? Es bist nicht du, der trennt und verurteilt. Es ist dein Verstand, der in dir zu einem eigenständigen Wesen geworden ist und nur in deiner Vorstellung der Trennung überleben kann.“
„Was würden wir ohne unseren Verstand tun? Wir könnten nicht überleben!“, entgegnete ich.
„Ihr könntet sehr wohl überleben. Wir Baumwesen haben keinen eigenen Verstand. Die Quelle übernimmt diese Funktion für uns in vollkommener Weise. Daher sind wir vollkommen glückliche Wesen. Andererseits haben wir nicht die Freiheit der Selbstbestimmung, die ein eigener Verstand ermöglicht. Allerdings birgt ein eigener Verstand eine unschätzbar große Verantwortung. Er kann ein kreatives Werkzeug sein oder eine destruktive Waffe. Durch euren Verstand habt ihr großartige technische Errungenschaften erreicht und ihr seid in der Lage Kunstwerke zu kreieren. Auf der anderen Seite seid ihr dabei, euch damit umzubringen.“
Mein Zauberbaum hatte Recht. Wir bräuchten keinen eigenen Verstand. In unserem Unterbewussten sorgt die Quelle für unser Überleben. Tatsache ist aber, dass wir einen eigenen Verstand haben und Tatsache ist auch, dass er uns benutzt und wir es nicht wahrhaben wollen oder noch nicht einmal merken. Es schien so zu sein, wie mein Zauberbaum es erklärte: Der Verstand erschafft ein imaginäres Wesen, das wir für unsere Identität halten. Dieses imaginäre Wesen ist der Gegenpol zur Quelle.
„Könnte es sein, dass unser ‚Ich’ eine Art imaginäres Wesen ist, das einen Gegenpol zur Quelle bildet?“
„Natürlich ist es das.“, sagte der Zauberbaum. „Euer ‚Ich’ ist nichts Schlechtes. Es wird nur destruktiv, wenn es zur Identifikation wird. Das ‚Ich’ ist ein reines Spiegelbild der Quelle. Im ‚Ich’ sieht die Quelle ihr Spiegelbild. Das Dilemma beginnt, wenn das Spiegelbild für das Original gehalten wird.“
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